„Nerd“ entpuppte sich als Spitzname, die dazugehörige Person als ein pickelgesichtiger, bebrillter und reichlich übergewichtiger Halbwüchsiger, der ein grellrotes XXL-T-Shirt mit der gleichnamigen Aufschrift trug - als sei das noch nötig gewesen.
Der Junge war über den Spitznamen übrigens keinesfalls verschnupft. „Ist mein Deckname, wissen Sie? So wie Clark Kent.“ Dabei fuhr er sich lachend über die Brust, als wolle er sein Hemd aufreißen und darunter ein Superheldenkostüm entblößen.
Mit seiner Theorie hielt er auch nicht lange hinter dem Berg. Bei der nächsten Mahlzeit, die die Bewohner der Nexus-Siedlung des schönen Wetters wegen unter freiem Himmel einnahmen, an Tischen, die nach Belieben auf der Wiese am See aufgestellt worden waren, und mit bester Aussicht auf den Nexus, der mühelos das Fernsehprogramm ersetzte, ließ er seinen Gedanken freien Lauf. Ihr Tisch war übrigens dicht besetzt mit Zuhörern, die teilweise auf die Neuankömmlinge, teilweise auf Nerds neuste Einfälle neugierig waren.
„Hatten Sie noch niemals das Gefühl, Sie wären so etwas wie eine Marionette, deren Fäden irgendein sehr mächtiger Unsichtbarer zieht? Sie geraten ständig in irgendwelche unmöglichen Situationen, und haben dabei den Eindruck, daß da irgendjemand in aller Heimlichkeit über Sie lacht? Daß irgendein Fremder, vielleicht eine Vielzahl von Fremden, Sie in jeder Lebenslage beobachten, von einer Warte aus, zu der Sie keinerlei Zugang haben?“
Zamorra und Nicole sahen sich überrascht an. „Ehrlich gesagt - das haben wir ständig.“ Bislang hatten sie, natürlich, Merlin im Verdacht gehabt - aber hatte der alte Zausel nicht immer und immer wieder betont, daß er selber nur ein Diener war - eine Marionette, die im Lauf ihres Jahrtausende währenden Lebens vielleicht ein winziges bißchen besser hinter die Kulissen zu schauen gelernt hatte als sie beide?
„Wundert mich nicht. Den meisten hier geht es so. Das hat nichts mit Paranoia zu tun, sondern es ist einfach so. Was meine Theorie unterstützt. Die Leute, die hier landen, sind keine normalen Personen, sondern Schlüsselfiguren ihrer jeweiligen Universen. Die, um die sich alles dreht, auch wenn sie selber es gar nicht wissen. Um unwichtige Nebenfiguren kümmert sich der Nexus nicht.“
„Aber warum? Was ist der Sinn des Ganzen?“
„Ganz kurz ausgedrückt?“ grinste Nerd. „Eine Art Parksystem. Bis die jeweilige Person wieder gebraucht wird.“
Das war für die meisten Anwesenden eindeutig zu viel. Daß sie wichtige Personen waren, gut und schön, das war gewiß ein Gewinn für das persönliche Ego - aber daß sie hier einfach geparkt wurden, während - was? - passierte?
„Wer von Ihnen den Film „Matrix“ kennt, erinnert sich vielleicht an die Szene mit der Katze - während die Matrix rekonfiguriert wird, schleichen sich Logikfehler ein, Wiederholungen und Déjà-Vu-Erlebnisse. Ich schätze mal, daß bei jedem, der hier ankommt, gerade das gleiche passiert. Er wird quasi auf „Hold“ geschaltet, damit die Autoren neu dekorieren können.“
„Autoren?“ fragte Zamorra überrascht, aber der Junge war noch nicht fertig.
„Deshalb auch der Erinnerungsverlust. Wir hatten ein paar Leute mehrfach hier, und sie haben sich nie daran erinnert, daß sie schon vorher hier waren. - So wie dieser komische Doktor mit seiner Polizeibox. Für den bauen wir noch mal eine Drehtür ein. Ich bin schon gespannt, wie er beim nächsten Mal aussieht. Der ist nämlich eine Art Gestaltwandler, alle zwei bis drei Besuche wechselt er sein Aussehen. Wir erkennen ihn nur an seinem Fahrzeug. Diese Polizeibox, sie heißt übrigens „Tardis“, ist so etwas wie eine nexus-gängige Raumzeitmaschine. Leider geht sie nur in Dimensionen, die wirklich abseits liegen, und für die Leute hier wenig interessant sind. Aber ich schweife ab.“
„Welche Autoren?“ Das Geschwafel von diesem Doktor, den jeder hier zu kennen schien, den auch sie vielleicht kennenlernen würden, wenn sie länger hier blieben, oder vielleicht auch nicht, interessierte Zamorra jetzt nicht, er wollte, daß Nerd endlich zur Sache kam.
„Meine Grundthese ist die.“ Der dickliche Junge machte eine Kunstpause. Wollte er es extra spannend machen, oder sammelte er nur seine Gedanken, um den schwierigen Sachverhalt so überzeugend wie möglich zu formulieren?
„Daß alles, was in einem Universum in der Realität geschieht, in einem, oder vielen, der anderen Universen als Fiktion landet. Eine Art Echo gewissermaßen. Oder umgekehrt, alles, was sich bei Ihnen irgendwelche Autoren oder Filmemacher ausdenken, egal wie bizarr es auch sein mag, in irgendeinem anderen Universum wird es zur Realität. Wird es Realität, weil es sich anderswo jemand ausdenkt, oder entstehen die Fiktionen als Echo auf eine fremde Realität? Diese Frage will ich nicht entscheiden, das ist wie die Sache mit dem Huhn und dem Ei. Jedenfalls solange man die Dinosaurier außer Acht läßt.“
„Du meinst also...“ Wie hatte Nicole es formuliert? „Ich glaube, das sind keine Decknamen!“
„Jeder, der hier landet, ist echt.“ erklärte Nerd. „Echt in dem Sinne, daß er in seinem Universum die Realität ist. Für uns, die wir aus anderen Universen stammen, ist er eine fiktive Figur, so wie wir zweifellos für andere Universen die fiktiven Figuren sind.
Aber wir erkennen nicht jeden, der hier landet. Sei es, weil uns die spezielle Fiktion nicht bekannt ist, sprich wir das betreffende Buch zufällig nicht gelesen, den Film nicht gesehen haben, oder weil diese Person bei uns selbst als Fiktion nicht bekannt ist. Das Echo hat uns gewissermaßen nicht erreicht, um bei dieser Metapher zu bleiben.“
Das wollte erst einmal durchdacht sein, damit man es verstehen konnte. Aber der Junge setzte noch eines drauf.
„Ich vermute, daß das die wahre Antriebsmaschine des gesamten Kosmos aus Multiversen ist. Die Erhaltung der Ideen, analog zur Erhaltung der Energie. Energie kann weder geschaffen noch zerstört, sondern nur umgewandelt werden, erinnern Sie sich?“
„Und jede Idee wird irgendwann, irgendwo zur Realität.“ murmelte Zamorra und sah auf einmal sehr alt und grau aus, mindestens so alt wie er jetzt in Wirklichkeit gewesen wäre, ohne die Quelle des Lebens.
Er blieb stumm sitzen und dachte nach. Über Nerds Worte, das auch. Aber in erster Linie an die vielen Freunde und Gefährten, die er im Lauf der Jahre verloren hatte. Bill Fleming, Inspektor Kerr, Möbius Senior und Junior, Michael Ullich, Reek Norr, Fenrir und so viele, viele andere... hieß das, daß in einer ungezählten Menge fremder, unbekannter Dimensionen ihre Epitaphien standen, in Form von Büchern oder Filmen?
Denn wenn sie beide, Nicole und Zamorra, hier waren, hieß das nicht, daß sie die Schlüsselfiguren waren, um die sich alles drehte? Und was war dann mit denen, denen es ähnlich erging - mit John Sinclair und den anderen Dämonenjägern, mit denen sie sehr sporadisch zusammengearbeitet hatten, und die in der Regel ein ebenfalls mehr als gutbestücktes Abenteurerleben führten?
Er wußte nicht, ob er ersteres vielleicht nicht als tröstlich empfinden sollte, denn alles, was er im Moment fühlte, war ein tiefsitzendes, wühlendes Grauen... und jetzt verstand er, wie Merlin fühlen mußte.
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