Sie begann einen langen Kreis zu fliegen, und bald drehte sie ab und flog in eine ganz bestimmte Richtung. Tom folgte ihr mit etwas Abstand, um sie nicht zu irritieren, denn er war sehr daran interessiert zu erfahren, wo sie herkam. Sie steuerte eine Stelle mit dichter, kleinteiliger Bebauung an, die ihrer Beschreibung entsprach - Kleingewerbe, armselige niedrige Bauten, die sich dicht drängten.
„Da, das Dach dort mit den gemauerten Kaminen, das muß es sein. Dort bin ich schon mal gelandet, nach meinem allerersten Flug, ich erinnere mich wieder. Aber ich trau mich nicht zu landen, es besteht nur aus dünnem Blech und ich bin doch eigentlich viel zu schwer dafür.“
„Dann laß mich vorgehen. Ich zeige dir, wie es geht. Das geht ganz einfach, weil du dich selbst leichter machen kannst als du wirklich bist, einfach indem du es dir vorstellst. Stell dir vor, du schwebst wie ein kleines glückliches Wölkchen hinunter und landest auch so, ganz langsam und schwerelos, die Flügel sind nur zum Steuern da. Und weil ich vor dir bin, wird dein Großvater mir Sachen an den Kopf werfen und nicht dir, wenn er gerade zum Werfen aufgelegt ist.“
Dazu übersandte er das Cartoonbild eines sehr angesäuerten älteren Chinesen mit altmodischem Zopf, der bildliche Zeichentrickflüche von sich gab und mit Hockern warf, und hörte prompt, wie sie im Geiste kicherte. Das war gut, denn ihre Erheiterung half ihr dabei, sich so weit zu entspannen, daß das mit der Gewichtsverringerung klappte.
Er machte es vor, indem er elegant hinuntertauchte, direkt oberhalb des Blechdachs in der Luft stehenblieb, es dabei nicht mal mit den Klauen berührend, obwohl es in seiner Reichweite war, und noch im selben Moment die Rückverwandlung in ihrer Schnellversion einleitete. So daß schon einen Augenblick später seine zwei sehr menschlichen Füße beinahe lautlos auf dem Blechdach aufsetzten.
Und dann beeilte er sich, Platz zu machen, und winkte ihr zu. Er wußte, daß er in seinem wärmeabstrahlenden menschlichen Körper in ihrer Infrarotsicht als leuchtender Schemen sehr gut zu erkennen war, selbst in der nächtlichen Finsternis im Gewirr der Dächer weit jenseits der Straßenbeleuchtung. Und da kam sie schon, als mächtiger Schatten, der im Gegenlicht ein paarmal in matten gleichmäßigen Mustern wie von poliertem geschwärztem Metall aufschimmerte.
Er fühlte den heftigen Windstoß, den ihre Flügel verursachten, als sie abbremste, und im nächsten Moment reckten sich säulendicke, schwarze und mit langen Krallen bewehrte Beine der Dachoberfläche entgegen.
„Wölkchen! Kleines schwebendes rosa Wölkchen!” dachte er intensiv, darauf hoffend, daß sie immer noch im telepathischen Rapport mit seiner menschlichen Gestalt stand.
„Schon gut, ich wolke.” antwortete sie mit deutlichem Humor, daß ihm fast der Kopf explodierte. Denn ihre Telepathiesendungen in der Lautstärke an menschliche Aufnahmefähigkeit anzupassen, hatte sie bisher noch nicht gelernt.
„Hei, das funktioniert ja!“ freute sie sich dann lautstark, als sie auf dem Dach stand, ohne es mit ihrem normalen Tonnengewicht einzudellen. Und drehte ihm ihren mächtigen gehörnten Schädel zu, um zum allerersten Mal seine menschliche Gestalt zu betrachten.
„Du bist ja --“ machte sie dann verdutzt.
“Ein Weißer?” fragte er zurück, weil sie ganz offensichtlich mit einem Landsmann gerechnet hatte. „Tut mir leid, daß ich dich enttäuschen muß. Man kann leider nicht alles haben im Leben.“ Und grinste sie burschikos an.
„Und jetzt bleib so bitte. Immer noch ein leichtes rosa Wölkchen, bis du dich zurückverwandelt hast.“
„Das kann ich aber nicht.“ Traurig und mit deutlich hörbarem Seufzen.
„Kannst nicht oder willst nicht?“ fragte er zurück. Immer noch unterhielten sie sich rein telepathisch, der Drache, weil ein zähnestarrendes Drachenmaul nicht für menschliche Sprache gemacht war, und Tom, weil er noch nicht wußte, welche Sprache genau ihre Muttersprache war. Also lief ihr Austausch völlig lautlos ab, und es sah so aus, als würden sie sich nur stumm anstarren.
„Ich habe das nie gelernt. Wie hast du das gemacht?“
„Das ist ganz einfach. Dein menschlicher Körper steckt im Moment in einer Art Kokon, der mit deinem Geist verbunden ist. Entspanne dich und versuche, dir diesen Kokon vorzustellen. Und dann stell dir vor, du trennst den Kokon vorsichtig auf, um den Körper darin zu befreien. Du wirst dich dann fühlen, als würdest du das Bewußtsein verlieren, aber das ist normal, das gehört dazu. Laß dich einfach fallen ... und wenn du das Bewußtsein wiedererlangst, bist du wieder ein Mensch und in deinem normalen Körper.“
„Ich traue mich nicht.“ antwortete sie aber. Und in ihrem offenen Geiste konnte er sehen, was sie meinte, ganz verschämt.
Er lächelte, dieses Problem hatte er auch einmal gehabt, vor sehr langer Zeit.
„Wie man seine Kleider anbehält, auch das kann ich dir beibringen. Es dauert aber eine Weile, bis man den Trick beherrscht, das geht leider nicht jetzt sofort. Diese Peinlichkeit bleibt dir jetzt also nicht erspart. Aber mach dir keine Sorgen. In einem meiner menschlichen Berufe bin ich Arzt und kann dir versichern, daß ich schon viele weibliche Körper nackt gesehen habe.“
Er hörte die Geräusche hinter sich, obwohl die Personen versuchten, ganz leise zu sein, als sie das Dach von einem der angrenzenden Fenster her betraten. Aber Richards besaß Ohren wie ein Luchs und war jederzeit darauf gefaßt, daß irgendein Feind sich von hinten anzuschleichen versuchte. Was sie sich wohl dachten dabei, daß hier ein fremder Weißer und ein riesiger schwarzer Drache auf dem Dach standen und sich stumm fixierten? Oder was sie gleich unternehmen wollten, auch auf das Risiko hin, dadurch die Aufmerksamkeit des geschuppten Giganten auf sich selbst zu lenken?
„Oh, da ist Großvater.” Und sie ließ prompt ihren Kopf hängen, daß ihre Schnauzenspitze sich in das Blech des Daches hineinzubohren drohte.
„Na, dann hast du ja einen ehrenwerten Hüter deines Anstandes, wenn du es jetzt versuchst. Ich schaue dir bestimmt nichts weg.“
Und damit drehte er ihr einfach den Rücken zu, um stattdessen die Neuankömmlinge zu begutachten.
Chinesen, wenn seine Menschenkenntnisse ihn nicht trogen, selbst im unsicheren Licht auf dem Dach. Der alte Mann mußte der Großvater sein, flankiert von zwei jungen Männern und einer jungen Frau, alle außer dem Alten mit Waffen in den Händen, traditionellen chinesischen Schwertern und Speeren. Die Frau trug dazu noch etwas buntes aus Stoff, Kleidung oder eine Decke, über einem Arm, war also auf das Empfangen einer ziemlich nackten Rückkehrerin vorbereitet. Pistolen oder andere moderne Feuerwaffen konnte Tom nicht erkennen, aber selbst die hätten in einer ernsten Auseinandersetzung mit einem Drachen nicht viel Nutzen gezeigt.
Aus dem offenen Fenster, aus dem sie aufs Dach gestiegen waren, und hinter einigen weiteren schmalen Dachluken waren Gesichter zu sehen, die herausspähten, doch mehr als die vier vor Tom schienen nicht herauskommen zu wollen, vermutlich damit es nicht zu viele Opfer auf einmal geben konnte, falls der Drache durchdrehte.
Er lächelte ihnen zu und erkannte die Überraschung auf ihren Gesichtern. Vielleicht weil sie nicht mit einem Weißen auf dem Dach ihrer Unterkunft gerechnet hatten, obwohl sie doch bereits sein langes blondes Haar gesehen hatten, das auf seine Herkunft schließen ließ - oder vielleicht weil er dem Riesengeschöpf hinter sich so einfach und sorglos die Kehrseite zuwandte?
Er hatte das Gefühl, daß aus einer sehr groß sich auftürmenden Masse hinter ihm auf einmal eine sehr kleine wurde - nur ein Gefühl, weil der Luftraum hinter ihm sich auf einmal anders anfühlte als vorher, er sah es nicht, aber üblicherweise konnte er sich auf sein Gefühl verlassen, als ehemaliger Seemann - und sofort setzte die Frau mit dem Speer in der einen Hand und den Textilien über dem Arm sich in Bewegung und lief an ihm vorbei, ohne ihm mehr als einen prüfenden Seitenblick zu gönnen. Er blieb in aller Ruhe stehen, bis er sicher sein konnte, daß zwei weibliche Personen hinter ihm jetzt dezent bedeckt waren, und drehte sich erst dann langsam um.
Sie war sehr jung, stellte er fest, bestimmt noch nicht volljährig, obwohl das bei Chinesinnen nicht immer auf den ersten Blick zu erkennen war. Und sie war sehr hübsch, selbst für die Augen eines Barbaren aus dem Westen.
Auch sie betrachtete ihn jetzt aus ihren schwarzen menschlichen Augen, und was sie sah, schien sie zumindest nicht gleich auf den ersten Blick abzustoßen. Sie trug jetzt ein einfaches, buntgemustertes Kleid, nicht viel mehr als ein übergeworfenes Tuch, das mit einem Stoffstreifen als Gürtel zusammengehalten wurde, und sah selbst darin und barfuß auf dem Dach stehend einfach umwerfend aus. Fand er, und erinnerte sich ganz spontan daran, wie lange er nicht mehr mit einer Frau zusammengewesen war. Denn die letzte seiner insgesamt fünf Ehen war schon vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs zu Ende gegangen, und seitdem hatte er nur sporadische Bekanntschaften gepflegt.
Er verneigte sich höflich, wie es seine altmodische Art war, und sie gab die Verbeugung zurück.
„Mein Name ist Thomas Adalmar Richards der Dritte. Kurz Tom für meine Freunde. Verstehen Sie mich?“ fragte er dann.
„Ja, ich verstehe.“ erwiderte sie mit sehr ausgeprägtem, aber süß anzuhörendem chinesischen Akzent. “Mein Name ist Wong Mai Lin.“
Und sie verbeugten sich erneut voreinander, wie es Brauch war beim ersten Kennenlernen. Auch die bewaffnete Frau verneigte sich, stellte sich jedoch noch nicht vor, dafür war später noch Zeit.
Mai Lin ging an Tom vorbei und zu dem alten Mann hinüber.
„Das ist mein sehr geehrter Großvater, Wong Fei-Hung.“ stellte sie vor, den Nach- und Familiennamen an erster Stelle, wie es üblich war in Fernost.
„Thomas Adalmar Richards der Dritte. Zu Ihren Diensten.“ Und abermals fand gegenseitiges Verneigen statt, Tom und alle Chinesen gleichzeitig.
Da der Drache sicher verstaut und verschwunden war, wagten sich jetzt mehr Leute aufs Dach, und mit ihnen kamen mehr Lampen, die die Sicht verbesserten.
„Bitte kommen Sie herein.“ sprach der alte Mann zu Tom, und sie alle kletterten durch das offene Fenster ins Innere des Gebäudes, einer nach dem anderen. Die Umgebung drin sah so aus, wie Tom es erwartet hatte - heruntergekommen, armselig, nur mit der nötigsten Ausstattung, die aussah, als habe sie jemand vom Sperrmüll zusammengesucht, jedoch zumindest so sauber, wie es unter den Umständen ging. Zu den Seiten gingen Türen ab, hinter denen sehr viele Menschen eng zusammengedrängt lebten, wie es aussah, sehr viel mehr als jede Behörde erlaubt hätte - wenn sie denn gewußt hätte, was hier vorging. Oder es wußte und sich offiziell nicht darum scherte. Eine typische Massenunterkunft, in der illegale Ausländer gerne unterkamen, zusammen mit ihren wenigen legalen Landsleuten. Der alte Mann und seine Enkelin gingen voran, dann kam Tom als ihr Besucher, und hinter ihm folgten die Frau, die zwei Krieger als Ehreneskorte und Wachmannschaft für den Fall, daß der Besucher irgendetwas versuchte, und mehrere andere Hausbewohner, während aus vielen offenen Türen jetzt neugierige Gesichter lugten. Vermutlich wußten die meisten oder alle hier, was mit Mai Lin los war, und hatten gehört, daß auch der Weiße zur selben Sorte gehörte, denn Tom war sich absolut sicher, daß „Großvater“ einen Wachposten auf dem Dach stationiert hatte, der melden mußte, wenn Renying von sich aus von ihrem kleinen nächtlichen Ausflug zurückkehrte.
Daß heute zusätzlich ein weiterer Drache auftauchte, der obendrein einem Weißen gehörte, hatte die Leute hier vermutlich ziemlich überrascht.
Es ging mehrere Treppen hinunter, bis sie im Kellergeschoss des Häuserkomplexes sein mußten. Eine schwere Brandschutztür öffnete sich vor ihnen, doch dahinter lag nicht die erwartete Tiefgarage. Stattdessen war der Raum geradezu verschwenderisch ausgestattet in reichem chinesischem Dekor, mit glitzerndem (unechtem) Gold, Möbeln und Vorhängen in (abgeschabtem) rotem Samt und dem Duft von Räucherstäbchen und Kohlenbecken in der Luft, während oben die sichtbare Armut herrschte. Dies hier war das wahre Reich von Fei-Hung Wong, dem Patriarchen dieser Großfamilie, der Ort, wo er seine Schätze und die der ganzen Familie aufbewahrte, und sein größter Schatz war seine Enkelin, denn das erste, was hier wirklich ins Auge stach, weil es absolut nicht zur restlichen Ausstattung paßte, war ein gigantischer Käfig aus unglaublich dicken und massiven, handgeschmiedeten und geschwärzten Eisenstangen.
Der Käfig für Renying.
Und vermutlich auch für das Mädchen selbst, denn wie sich Richards noch gut erinnern konnte, kam ein Drache, der nicht mit Absicht herbeigerufen wurde, etwa ein bis zweimal pro Monat von selbst zum Vorschein. Man hatte sie also die ganze Zeit eingesperrt gehalten, seit der Drache zum ersten Mal erschienen war, um sie vor sich selbst, und andere vor ihr und ihren unvorhersehbaren Reaktionen zu schützen.
Aber das, so hoffte er jetzt, würde sich mit seiner Hilfe sehr bald ändern.